Miriam Tag

Planetarische Philosophie

Planetarische Philosophie
2022

Sentipensar, planetarisch. Workshops, Lehrveranstaltungen, Essays.

Terrestrisch werden
Oder: Endlich die Erde bewohnen, auf weitere Weise

I Die Erde denken

Die Erde ist der Planet, auf dem wir leben. Wir, das sind die Wesen, die irdisch, erdgebunden, erdverbunden, erdgeboren, erdnah, erdhaft, terrestrisch sind. Wesen, deren Existenz unhintergehbar an diesen Planeten gebunden ist. Die atmen, sich bewegen, die aufnehmen und ausscheiden, die anziehen und abstoßen, sich verbinden und sich überschreiten, weil es die Erde gibt, ihre Atmosphäre, Böden, Meere, Landstriche, ihre Auffaltungen und Tiefenschichten.

Vollständig eingebettet in die Erde, ist uns die terrestrische Bestimmung unserer Existenz nicht immer bewusst. Dass ich dies hier denke, dass ich diese Zeilen schreibe, dass du sie liest, verdankt sich meinem und deinem Eingebundensein in die Erde, in unendlich komplexer Verschränkung mit anderen Wesen und Kräften, in komplizierten, unabgeschlossenen, verschlungenen Verbindungen.

Wie verändert sich unsere Weise, die Welt zu bewohnen, wenn wir dieses irdische Eingebundensein mit jeder Zelle spüren; wenn wir wirklich spüren, was es heißt, von dieser Erde zu sein? – Lass uns einfach beginnen. Lass uns mit dem Namen beginnen: „Erde“.

Was ist das, die Erde?

Erde f. ‘fruchtbarer Boden, Land, die irdische Welt, unser Himmelskörper’, ahd. erda (8. Jh.), mhd. erde, asächs. erða, mnd. ērde, mnl. aerde, eerde, nl. aarde, afries. erthe, irthe, aengl. eorþe, engl. earth, anord. jǫrð, schwed. dän. jord, got. aírþa (germ. *erþō), gebildet mit Dentalsuffix neben ahd. ero (9. Jh.) und verwandtem griech. éra (ἔρα) ‘Erde’; Suffix mit Halbvokal zeigen anord. jǫrfi ‘Sand, Sandhügel’ und kymr. erw ‘Feld’. Allen gemeinsam ist die Wurzel ie. *er- ‘Erde’.
„Erde“, bereitgestellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, https://www.dwds.de/wb/Erde, abgerufen am 16.05.2021.

"Ich benötige die Namen, um der Wahrnehmung Stofflichkeit zu verleihen, aber ich benötige sie als Namen in Bewegung." (Tsing 2019, 394, 4)

Wie nähert man sich der Bedeutung eines Namens? Wie kommen wir darauf, was „Erde“ heißen könnte? Lass uns diesen Namen verwenden; aber lass ihn uns zugleich in Bewegung versetzen. Lass ihn uns in Bewegung versetzen, indem wir ihn auffächern, vervielfältigen. In mindestens drei Bedeutungen, aus deren Zusammenspiel sich vielleicht eine vierte öffnen könnte.
Lass uns Philologie spielen, lass uns Anthropologie, Geologie, Geografie, Geschichte, Philosophie. Lass uns große Thesen entwerfen. Lass uns behaupten, dass wir uns der Erde auf drei verschiedenen Wegen zu nähern vermögen; dass jeder von ihnen charakteristisch ist für eine bestimmte phylogenetische und ontogenetische Phase unserer Welterzeugung; und dass jeder zu einer spezifischen Erde führt.

Die erste Erde, das ist der Boden unter unseren Füßen. Das Land, auf das wir unsere Schritte setzen. Der Grund, auf dem wir stehen, gehen, sitzen, liegen, unsere Wohnstätten bauen, Innenräume um uns errichten, die wir ‚„zu Hause“ nennen, von denen wir ausstreifen und zu denen wir zurückkehren.

Die zweite Erde, das ist die irdische Welt. Eine Welt, die uns sehr menschlich, menschengemacht, menschenbezogen erscheinen kann. Die Bühne, auf der wir unsere Leben spielen. Der Rahmen, in dem sich unser Sein vollzieht. Der Kokon, der unsere Existenz umgibt. Aber auch das komplexe irdische Leben, mit dem wir innig verwoben sind. Die mannigfachen Körper, mit denen wir uns verschränken; der umfassende Atem, in den wir eingetaucht sind.

Die dritte Erde, das ist der Planet. Ein Himmelskörper, der einer unter Myriaden anderer ist und zugleich vollkommen einzigartig. Die Erdkugel, die keine Kugel ist, sondern ein revolutionärer Ellipsoid. Ein atmosphärischer Raum, der ganz bestimmte Bedingungen bereitstellt, unter denen sich Atome zu Molekülen zu Zellen zu komplexen Lebewesen verbinden können.

Jede dieser Erden wird auf verschiedene Weise erreicht.

Die Erde, die das Land ist, erfahren wir, indem wir sie betasten, indem wir auf ihr liegend unseren Körper spüren, indem wir sie begehen. Sie ist unser grundlegender Weltbezug. Sie ist der Grund für mein Selbstempfinden und für mein Weltgefühl. Sie ist der Boden, auf dem ich mich getrennt von der Hülle anderer Körper als einzelnen Körper, ich-für-mich, spüre, die mich mit mir verbindet, die meine irdische Anbindung begründet. Später ist sie die Welt, die sich mir öffnet, wenn ich mich in meinem Körper gründe, wenn ich fleischlich derart anwesend bin, dass ich die Schwerkraft spüre, wenn meine Zellen sich anschmiegen an die Faltungen, Grate, Höhen und Tiefen der mich umgebenden Landschaft, wenn ich als spezifischer, eigensinniger Körper einen bestimmten Landstrich bewohne. Stoße ich spät auf diesen Weltbezug, werde ich gehen müssen; wirklich gehen, meilenweit; über die Bewegung meiner Füße mir den Kontakt zur Erde einverleiben.

In die Erde, die die irdische Welt ist, wachsen wir hinein, indem unsere Körper sich bewegen, unsere Wahrnehmung sich ausdehnt in immer weitere Räume und Bezüge, indem unser Denken sich selbst zu beobachten beginnt in seiner Beziehung zur Welt. Wir erzeugen die Erde, die die irdische Welt ist, mit unseren Körpern, in unserem Denken, indem wir die Welt der Gemische mit neuen Schichten überziehen, indem unsere Artikulationen zu Gelenken werden, die das scheinbar weit voneinander entfernte verbinden, indem wir Schleifen zwischen Dinge fädeln und aus komplexen Kompositionen neue Komplexe formen. In dieser Auffächerung der Bezüge vervielfältigen sich auch die Welten, die wir erzeugen. Die Erde als irdische Welt ist eine mannigfache. Generatoren für und Vermittler zwischen diesen Welten sind unsere Kulturtechniken, diese zugleich schöpferischen und verführerischen Kräfte; sie erzeugen neue Welten und Weisen des Weltbezugs, lassen sie in die Welten anderer hineinragen und verlocken sie so dazu, sich davon verwandeln zu lassen.

Der Erde, die der Himmelskörper ist, nähern wir uns in einer Bewegung, die mit Galileis Ausruf 1633 beginnt, „Eppur si muove! Und sie bewegt sich doch!“; die wiederum angestoßen wird von der Kopernikanischen Revolution, mit der die Vorstellung einer ruhenden Erde als Weltmittelpunkt durch das Wissen ersetzt wird, dass sich die Erde als ein Planet unter vielen um die Sonne bewegt. In dieser Bewegung wird nicht einfach ein Weltbild – das geozentrische – durch ein anderes – das heliozentrische – ersetzt, sondern zugleich ein ganzkörperliches Erfassen in einem sehenden Denken konzentriert, das die Erde von außen zu erfassen glaubt. Der Anflug an die Erde von außen, weit außen ist die gängige Bewegung der Annäherung an diese dritte Erde, charakteristisch für das, was wir „Moderne“ bezeichnen könnten. Aus dem unendlichen Universum kommen wir uns unserem Planeten nahe, einer im dunklen Weltall schwebenden blauen Kugel. Wir sehen sie von außen, wir erfassen sie auf einen Blick, als Ganzes. Der Beginn der praktischen Raumfahrt 1957 machte den imaginierten Außenblick auf die Erde zu einem realen, der in den ersten Weltraumfotografien des Planeten bald darauf auch technisch realisiert wurde. Blue Marble.

Die körperliche Raumerkundung der ersten Erde, das Land; die sich selbst artikulierende Welterzeugung der zweiten Erde, der irdischen Welt; der abstrahierende Blick von außen auf die dritte Erde, den Himmelskörper – lassen sich diese Zugänge verbinden?

Was geschähe etwa, wenn wir im Anflug auf die dritte Erde aus dem unendlichen Universum nicht in einer Entfernung Halt machten, die die Erde als Ganze ins Blickfeld nimmt, sondern dem Sehnen nachgäben, ihr endlich nahe zu sein, richtig und vollständig in ihr zu inkarnieren? Wenn wir in dem Außenblick auf die Erde das Wissen einflößten, Körper zu sein? Wenn wir nicht in einer zunehmenden Abstraktion von der Erde hängenblieben, sondern uns mitten hinein in die komplexen, mannigfachen Gemische stellten? Wenn wir den Himmelskörper wieder zu einem Gewebe machten, von dem unsere Füße und Hände wissen?

Was geschähe, wenn wir unseren menschlichen Solipsismus aufgäben (aufweichten zumindest), nicht mehr nur von uns selbst sprächen und unserer eigenen, menschlichen Weise, die Erde zu bezeichnen? Wenn wir unseren Artikulationen erlaubten, verbunden mit Wesen und Kräfte der Erde zu sein, sie durch uns sprechen zu lassen, sie zu bezeugen, zu übersetzen, zu interpretieren und auf diese Weise neu zu komponieren?

Was geschähe, wenn wir unseren Körpern erlaubten, nicht nur das sie umgebende Land zu fühlen, sondern den atmosphärischen Raum, der sie einhüllt? Die Rotation der Erdachse zu spüren, die nie so herrlich ist wie in dem Moment, da sie sich in die Körper hinein fortsetzen darf, die sich gemeinsam mit der Erde durchs Weltall bewegen, auf die gleiche majestätisch rollende Weise wie sie?

Könnten solche Schleifen zu einem Modus der Welterzeugung führen, der den Namen „terrestrisch werden“ verdiente? Eine Weise der Welterzeugung, die die Erde als Grundbedingung menschlicher Lebensvollzüge und irdischer Existenz überhaupt vollends anerkennt; die die Erde als Größe instauriert, die menschlicher Kraft nicht nur ausgesetzt ist, sondern auf unser Handeln zurückwirkt; die das Denken der Alterität menschlicher Existenz vervielfacht und uns mitten hinein in die komplexen Gefüge einer mehr-als-menschlichen Welt stellt. Das hieße: terrestrisch werden.

Was, wenn wir es wagten, endlich wirklich terrestrisch zu werden?

II Die Erde spüren

III Die Erde lieben